#725 Aussageverweigerung – ein Nachteil? Versteckte Risiken des Schweigens
In dieser Folge knüpfen die Strafverteidiger Gregor Münch und Duri Bonin an ihre letzte Episode zum Aussageverhalten an – #723 Einvernahme bei Polizei oder Staatsanwaltschaft: Warum Schweigen oft die beste Verteidigung ist. Zahlreiche Hörerreaktionen zeigen, wie komplex und praxisnah das Thema ist – und wie juristische Normen, psychologische Effekte und Verteidigungsstrategien ineinandergreifen.
Ausgehend von sechs Hörerreaktionen diskutieren sie:
- Wie stellt sich die Frage des Aussageverhaltens in allen Verfahrensstufen – bis hin zum Obergericht?
- Gibt es Beschuldigte, die reden wollen und können – und wann ist das sinnvoll?
- Warum schweigen in der Praxis weniger als 2 % der Beschuldigten vollständig – und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?
- Welche Rolle spielt der psychologische Bias der „Miranda penalty“ – und werten auch Richter:innen und Staatsanwält:innen Schweigen unbewusst negativ?
- Erleben Schweigende in Einvernahmen häufiger Druck und Nachfragen?
- Kann ein gezieltes „Einvernahme-Training“ (mit oder ohne KI) helfen, solche Situationen zu meistern?
Empirische Studien aus den USA und Grossbritannien legen nahe: Schweigen wird von Geschworenen, Richter:innen und Ermittler:innen oft als Indiz für Schuld interpretiert – selbst wenn allen bewusst ist, dass es ein geschütztes Recht ist. Das ist kein bewusster Rechtsbruch, sondern eine unreflektierte kognitive Verzerrung. Die Kernaussagen der Studien sind:
- Schweigen ist psychologisch selten neutral.
- Der Effekt betrifft Laien und juristische Profis – Belehrungen neutralisieren ihn nicht vollständig.
- Verteidiger:innen müssen Mandant:innen auch mental auf mögliche Reaktionen auf Schweigen vorbereiten – und überlegen, ob und wie sie diesen Bias aktiv adressieren.
Schliesslich werfen Duri und Gregi einen Blick in die Schweizer Forschung: Besprochen wird der Aufsatz „Die Belehrung über das Schweigerecht – Ein leeres Versprechen?“ (Capus / Stoll / Studer, 2016). Die Auswertung von 520 Einvernahmeprotokollen aus sieben Kantonen hat gezeigt:
- Vollständiges Schweigen ist die Ausnahme (1 %), teilweises Schweigen selten (6,5 %).
- Belehrungen sind fast immer formal korrekt, aber meist standardisiert und schwer verständlich.
- Stress, Sprachbarrieren und ungünstige Rahmung schwächen die Wirksamkeit.
Am Ende bleibt die zentrale Erkenntnis: Wer die psychologischen Mechanismen und empirischen Befunde kennt, kann Schweigen gezielt zu einem starken Verteidigungsinstrument machen – und Mandant:innen so vorbereiten, dass ihr Recht im Verfahren nicht nur besteht, sondern auch wirksam umgesetzt werden kann.
Bei einem Freispruchbier kam die Idee auf, die Strafprozessordnung Artikel für Artikel zu besprechen: Deshalb treffen sich Duri Bonin und Gregor Münch freitags in den "Heiligen Stunden" des 5-Uhr-Clubs und diskutieren einen Artikel der Strafprozessordnung. Wann ist Aussageverweigerung sinnvoll? Warum braucht es Teilnahmerechte? Wie läuft eine Einvernahme ab und wie ist die Atmosphäre im Vernehmungszimmer? Wann finden die meisten Verhaftungen statt? Diesen und weiteren Fragen gehen Duri und Gregi in diesem Podcast nach.
Links zu diesem Podcast:
- Die Belehrung über das Schweigerecht – Ein leeres Versprechen? (Capus / Stoll / Studer, 2016)
- Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO – Hinweise bei der ersten Einvernahme
- Art. 113 Abs. 1 lit. d StPO – Rechte der beschuldigten Person
- Art. 10 Abs. 1 StPO - Unschuldsvermutung
- Art. 6 Ziff. 1 und 2 EMRK - Recht auf ein faires Verfahren
- Anwaltskanzlei von Duri Bonin
- Anwaltskanzlei von Gregor Münch
- Titelbild bydanay
- Das Buch zum Podcast: In schwierigem Gelände — Gespräche über Strafverfolgung, Strafverteidigung & Urteilsfindung
Die Podcasts "Auf dem Weg als Anwält:in" sind unter https://www.duribonin.ch/podcast/ oder auf allen üblichen Plattformen zu hören 🎧. Dort einfach nach 'Duri Bonin' suchen und abonnieren.
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