Auf dem Weg als Anwält:in

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#611 Thierry Urwyler: Ist die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Gutachten wissenschaftlich haltbar?

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Ausgehend von der bundesgerichtlichen Beweiswerthierarchie bei Gutachten beleuchtet Thierry Urwyler die Rechtsprechung des Bundesgerichts, die amtlichen Sachverständigen in ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ein höheres Gewicht beimisst als Privatgutachtern. Duri Bonin möchte daraufhin wissen, inwieweit diese Position nach wissenschaftlichen Kriterien haltbar ist? Die Antwort destabilisiert die Rechtsprechung des Bundesgerichts, so viel sei vorweggenommen. Beide sind sich auch einig, dass die heutige Rechtsprechung zu einer Art kognitiver Faulheit in dem Sinne führt, dass die Gerichte den amtlichen Gutachten folgen, sofern diese nicht sofort erkennbar fehlerhaft erscheinen. Eine sachkundige Auseinandersetzung mit alternativen Privatgutachten wird damit umgangen. Dies ist umso unverständlicher, als damit das Prinzip der 'Second Opinion' als Standardverfahren zur kritischen Qualitätskontrolle von vornherein verhindert wird. Denn unabhängig davon, in welcher Funktion man tätig ist, ob als Anklägerin, Verteidiger, Richterin oder Gutachter, kommt es immer zu einer Verzerrung im eigenen Wahrnehmungsprozesses. Studien zeigen, dass amtliche Sachverständige nicht weniger von solchen kognitiven Verzerrungen betroffen sind als private Sachverständige. Schon deshalb wäre eine Kontrolle wichtig. Die rechtlichen und berufsethischen Anforderungen an Privatgutachter rechtfertigen bei richtiger Würdigung keine Ungleichbehandlung gegenüber amtlichen Sachverständigen. Auch diesbezüglich scheint die Sichtweise des Bundesgerichts verkürzt. Duri und Thierry finden auch keine Erklärung, weshalb im Strafrecht eine weniger strenge Dokumentationspflicht gelten soll als im Sozialversicherungsrecht. Sodann wird das Phänomen des 'Gutachtenshoppings' thematisiert: Als maximaler Ausnahmefall legitimiert es keine Beweiswürdigungspraxis. Die Qualität von amtlichen Gutachten und Privatgutachten streut sehr stark: Es gibt in beiden Gruppen sehr gute und sehr schlechte mit überlappendem Qualitätsspektrum. Dies führt zu der eigentlich zwingenden Schlussfolgerung, dass eine formale Beweisregel nicht aufrechterhalten werden kann. Vielmehr müsste man die konkreten Gutachten miteinander vergleichen.

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Über diesen Podcast

In diesem Podcast reflektiert Duri Bonin mit Gästen über Fragen rund um die Arbeit als Anwalt und Strafverteidiger: Was macht eine gute Anwältin aus? Wie organisiert man die Anwaltstätigkeit? Wie handhabt man den Umgang mit Klienten, Gegenanwälten, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten? Was zeichnet ein gutes Plädoyer aus? Wie legt man sich eine Verteidigungsstrategie zurecht? Der spannenden Fragen sind vieler. Es ist ein Weg ins Urmenschliche, manchmal gar Allzumenschliche.

von und mit Duri Bonin

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